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Aktuelles

02.10.2024

Ein Generationengespräch über Sozialdemokratie

Ella:
Wie lange bist du schon bei der SPD dabei und warum bist zu eingetreten? Was ist dir in der SPD besonders wichtig?
Dittmar:
Also, dabei bin ich schon seit 53 Jahren. Ich bin in die SPD eingetreten, weil mir das Thema soziale Gerechtigkeit und Solidarität wichtig war und immer noch wichtig ist. Ich bin auch tätig in entwicklungspolitischen Gruppen, um dort mit denen, den es nicht so gut geht, solidarisch zu sein. Ein weiterer Grund ist, dass in der SPD der Mensch die wichtigste Rolle spielt und nicht, wie zum Beispiel in anderen Parteien wie der CDU, FDP usw., die mehr das Wirtschaftliche in den Vordergrund stellen, und dabei viele Menschen in Nöten unten durchfallen lassen.
Ella:
Welche Parteiämter hast du inne?
Dittmar:
Im Augenblick bin ich der Kassenprüfer in unserem Distrikt St. Pauli-Nord. Früher war ich auch schon mal Ortsvereinsvorsitzender, Zweiter Vorsitzender, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und auch Delegierter bei Wahlkreiskonferenzen.
Ella:
Was macht man so als Kassenprüfer?
Dittmar:
Es gibt den Vorstand in einem Distrikt mit ersten Vorsitzenden, zweiten Vorsitzenden, Beisitzern und dann eben auch den Kassenwart, der das Geld verwaltet, dass rein und raus geht. Dies wird jedes Jahr durch eine neue Mitgliederversammlung geprüft. Die schaut, ob die Buchhaltung ordentlich gemacht wurde. Und wenn alles in Ordnung ist, wird auch der Vorstand mit seiner Arbeit insgesamt entlastet.
Ella:
Was war der größte Erfolg oder das Bedeutendste, das die SPD in deiner Zeit als Mitglied erreicht hat?
Dittmar:
Der größte Erfolg der SPD war der Sieg bei der Bundestagswahl 1972. Da hat Willy Brandt gewonnen. Zwar war er vorher schon in der Koalition Bundeskanzler, diese ist allerdings auseinandergebrochen. Bei den Bundestagswahlen 1972 war die SPD das erste Mal überhaupt die stärkste Partei im Bundestag. Wenn man sich das vorstellt – etwa 46% – und dann mit den heutigen Wahlergebnissen vergleicht, ist das doch ein großer Unterschied.
Ella:
Hattest du jemals Zweifel an der SPD oder an den Parteiprogrammen?
Dittmar:
Wenn man ein kritisches SPD-Mitglied ist, wie ich, zweifelt man manchmal an bestimmten Entscheidungen. Aber ich bin seit über 50 Jahren dabei, weil die Grundlagen, die die SPD ausmachen, immer noch da sind. Was mir besonders auffällt, ist der Unterschied zu den heutigen Jusos – ich kenne sie kaum und habe den Eindruck, da passiert nicht viel. Als ich damals bei den Jusos war, standen wir fast immer in Opposition zur Partei und haben viele eigene Ideen eingebracht. Es ging rebellischer zu in der SPD, als heute.
Ella:
Glaubst du, es ist besser, dass es früher rebellischer war?
Dittmar:
Ja, natürlich. Es muss immer Bewegung geben. Das Solidarische darf nicht aus dem Blick geraten. Aber am Ende müssen Ideen kommen, frische Ideen, um Dinge voranzubringen. Und das passiert zurzeit weniger.
Außerdem, wenn ich sehe, was manche jungen Leute heutzutage machen, ist das für mich unvorstellbar. Als ich in dem Alter war, waren über 50% links orientiert. Die ganzen Typen, die jetzt rumlaufen – da kann ich nur den Kopf schütteln. Fast 40% bei der AfD, das hätte es bei uns nicht gegeben. Damals gab es vielleicht ein paar Idioten, aber heute scheint es nur noch Idioten zu geben. Die SPD war immer die Partei der jungen Leute, die am meisten gewählt wurde. Klar, manchmal war es schon knapp, und wir haben uns einiges erlaubt, aber letztlich sind wir dabei geblieben und waren auch bereit, Kompromisse einzugehen.
Ella:
Die nächste Frage greift ein bisschen das Thema auf: Warum glaubst du, steht die SPD in manchen Bundesländern gerade so schlecht da? Und wie kann man das Ruder wieder herumreißen?
Dittmar:
Das überlege ich mir schon lange. Irgendwo ist im ganzen Land ein politisches Bewusstsein verloren gegangen. Man redet ständig über Migration und Flüchtlinge. Aber der Staat muss funktionieren.
Man könnte meinen, es gibt zu viele Migranten, aber gerade im Osten, wo es kaum Ausländer gibt, sind die Menschen fixiert auf Migration. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es klare politische Inhalte, und große Parteien wie die SPD und CDU, die gegeneinander gekämpft und Ideen eingebracht haben. Dies wurde auch mal ein bisschen härter in der Auseinandersetzung, doch es ging darum, dass der Staat funktioniert und es den Menschen gut geht.
Auch bei den jungen Leuten ist das anders: Ich habe den Eindruck, dass diese Gruppe nur noch von Migration redet, anstatt sich um ihre eigene Zukunft zu kümmern. Es fehlt an einem Verständnis für Demokratie, das scheint verloren gegangen zu sein. Vielleicht hängt es mit der Wiedervereinigung und dem „Wir sind das Volk“-Rufen zusammen. Ich glaube viele wissen gar nicht mehr, wie es früher war und wie gut es ihnen eigentlich geht.
Selbst im Westen steigen viele auf die AfD um. Ich habe kürzlich ein Interview mit einem Unternehmer gelesen, der nicht versteht, warum 17-18% AfD wählen, obwohl es den Menschen gut geht.
Ich weiß im Moment nicht, was man tun kann.
Ella:
Ich wüsste auch nicht, was man tun könnte. Ich bekomme im Internet mit, wie die linken und rechten Personen immer wieder aufeinanderstoßen. Es gibt Videos, da wird einem richtig übel, wenn man sich die Kommentare durchliest. Vor allem die Jugend und junge Erwachsene diskutieren viel über diese Thematik und viele versuchen auch Aufklärungsarbeit zu leisten. Doch sie wollen es nicht hören und ignorieren die Argumente, nur um dann mit drei blauen Herzen zu antworten.
Dittmar:
Ich glaube, teilweise liegt es auch daran, dass man sich über Inhalte kaum austauscht. Ich sage schon seit Ewigkeiten: Das Problem ist, dass wir in der SPD keine überragende Figur wie Brandt haben, die die Leute mitnimmt. Es geht nicht nur darum, was jemand sagt, sondern wie er sich darstellt, wie er es schafft, den Leuten Vertrauen zu geben. Ich habe eine bessere Meinung von Scholz als viele andere, aber er ist nicht der Typ, der strahlt. Ich persönlich denke, vieles bei ihm ist überlegter als bei denen, die immer laut reden. Aber es wäre schön, wenn er als Persönlichkeit mehr Präsenz hätte. Ein Söder zum Beispiel, der tritt auf mit: „Ich bin hier, ich bin der Typ.“ Er ist von seiner Art her einfach präsent, besonders für die Bayern.
Manchmal macht er es den Leuten zu leicht. Es kommt vor, dass du sagst: „Olaf, die Frage hast du aber nicht beantwortet.“ Aber ich denke, was er macht, ist nachdenklicher als das, was viele andere tun. Für mich war es wirklich ein Kulturschock, als ich gelesen habe, wie viele Jugendliche bei den Europawahlen die AfD gewählt haben. Das war nicht nur hier der Fall, auch in anderen Ländern ist die rechte Bewegung stärker geworden. Das hat mich schockiert, weil ich in einer Zeit aufgewachsen bin, in der wir alle links waren.
Es gibt diesen Spruch von Jean-Marie Le Pen: „Wenn dein Sohn mit 20 nicht links ist, enterbe ihn. Und wenn er mit 40 immer noch links ist, enterbe ich ihn auch.“ Nach dem Motto: Als Jugendlicher sollte man schon ein bisschen rebellisch und oppositionsfreudig sein, aber mit zunehmendem Alter wird man vorsichtiger. Ich für meinen Teil will das nicht so sehen und hoffe, dass ich es nicht werde.
Ella:
Okay, dann kommen wir zur nächsten Frage:  Hat sich die SPD über die Jahre verändert? Wenn ja, eher ins Positive oder Negative?
Dittmar:
Natürlich hat sich die SPD verändert. Das muss sie auch, um sich weiterzuentwickeln. Aus meiner Sicht hat sie sich etwas negativer entwickelt, da ich mit meiner linken Einstellung viel mehr für die Beteiligung der Menschen an politischen Entscheidungen bin. Die Grundlage ist aber immer noch die gleiche.
Früher hätte man das vielleicht als „revisionistisch“ bezeichnet. Da fällt mir Eduard Bernstein ein, ein SPD-Theoretiker aus dem 19. Jahrhundert. Er hat damals argumentiert, dass man nicht gegen die bestehenden Strukturen kämpfen muss, sondern innerhalb der Strukturen für Verbesserungen sorgt. Genau das macht die SPD heute verstärkt – sie lässt die Strukturen bestehen und arbeitet innerhalb dieser, um den Menschen zu helfen.
In meinen Augen hat sich die Partei dabei etwas von ihrer ursprünglichen, kämpferischen Haltung entfernt. Für mich wirkt es heute oft weniger mutig. Man geht nicht mehr radikal an die Themen heran, sondern versucht eher, innerhalb des Systems kleine Schritte zu machen. Das ist nicht unbedingt schlecht, aber im Vergleich zu meiner früheren Überzeugung fühlt es sich wie ein Rückschritt an. Dennoch ist es keine komplett negative Entwicklung, sondern eher eine Anpassung, die für mich persönlich nicht optimal ist.
Ella:
Gab es denn auch Veränderungen, die bedeutend und wichtig waren?
Dittmar:
Es wird oft von einem „großen Bruch“ gesprochen, aber ich sehe das eher als eine Entwicklung. Die SPD hat sich im Laufe der Zeit stärker an die Gegebenheiten und das Umfeld angepasst. Früher war die SPD viel intensiver im linken Spektrum verankert. Damals ging es um Dinge wie die Vergesellschaftung – also die Idee, dass Unternehmen nicht nur privat geführt werden, sondern dass man sie gemeinsam, im Sinne des Sozialismus betreibt.
Aber die Bundesrepublik hat sich zunehmend zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung entwickelt. Das war so um 1958/59 herum, als die SPD dann auch den Weg hin zur Marktwirtschaft eingeschlagen hat. Diese Entwicklung wurde im Godesberger Programm festgeschrieben. Mit dem Godesberger Programm hat sich die SPD klar zur Marktwirtschaft bekannt und sich von den stärker sozialistischen Ansätzen entfernt. Dieser Wandel ist eine Anpassung an die Realität der Zeit, aber für jemanden, der ursprünglich aus einer linken, sozialistischen Perspektive kommt, war das natürlich ein erheblicher Richtungswechsel.
Also könnte man sagen, dass das Godesberger Programm in gewisser Weise ein Wendepunkt war, der der SPD auch politisch sehr geholfen hat. Unter anderem war es ein Grund dafür, dass die Partei danach überhaupt die Chance hatte, Wahlen zu gewinnen. Mit einem rein sozialistischen Programm wäre das niemals möglich gewesen. Aber durch die Hinwendung zur sozialen Gerechtigkeit innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems konnte die SPD mehr Menschen ansprechen.
1968 gab es die Wahlen, bei denen die SPD stärker wurde, und dann folgte die Koalition mit der FDP. Einige FDP-Mitglieder gingen, weil die Partei keine Mehrheiten mehr hatte, was schließlich 1972 zu einer Neuwahl führte. Bei dieser Wahl stellte die SPD erstmals die stärkste Fraktion und konnte eine führende Rolle in der Regierung übernehmen.
In den Jahren danach gab es immer wieder neue Programme, aber die hatten weniger mit den großen ideologischen Fragen zu tun. Sie konzentrierten sich mehr auf spezielle Themen wie Frauenrechte, Bildungspolitik oder andere spezifische Anliegen. Diese neuen Programme waren wichtig, aber sie berührten nicht mehr die Grundausrichtung der Partei, wie es das Godesberger Programm getan hatte. Seit diesem Punkt hatte sich die SPD von einer systemverändernden Kraft zu einer reformorientierten Partei innerhalb des Systems entwickelt.
Das war die wesentliche Änderung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ella:
Die nächste Frage haben wir eigentlich teilweise auch schon besprochen: Wie hat sich das politische Klima in Deutschland deiner Meinung nach verändert?
Dittmar:
Ich glaube, natürlich mittlerweile zum Schlechteren. Wenn du siehst, wie hier mit Menschen umgegangen wird – nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch politisch. Politiker*innen werden angegriffen, wie der CDU-Politiker in Hanau, der ermordet wurde, oder Mandatsträger*innen, die mit Drohungen konfrontiert werden. Das ist alles alarmierend. Und auch mit dem Aufkommen der AfD, für die Humanität, glaube ich, kein Begriff ist, kippt die politische Stimmung in Deutschland. Ich bin auch der Meinung, dass sich die CDU in diese Richtung verschlechtert hat. Besonders mit Leuten wie Merz, bei denen der Hass immer mehr zum Vorschein kommt.
Ella:
Wir sind jetzt auch schon bei der letzten Frage, nämlich: Was würdest du jüngeren Mitgliedern der SPD für die Zukunft raten?
Dittmar:
Einfach mitarbeiten: Wenn jeder ein bisschen beiträgt, muss nicht jeder viel leisten. Aber gemeinsam haben wir insgesamt eine größere Wirkung und können Ergebnisse vorweisen. Es ist wünschenswert, sich in der Partei aktiv einzubringen und auch für Ämter zu kandidieren. Aktive Parteimitglieder können andere besser zum Mitmachen aktivieren.
Früher hatte die SPD über eine Million Mitglieder. Das ist schon lange nicht mehr der Fall. Der Rückgang ist deutlich spürbar. So sind wir damals auch an die Regierung gekommen: durch das Engagement von immer mehr Menschen, die sich für die Partei eingesetzt haben. Es ist entscheidend, dass wir wieder mehr Menschen mobilisieren.